Weltweit gilt er als Experte für Herzchirurgie — insbesondere bei Kindern: Prof. Dr. René Prêtre (62) am Universitätsspital Lausanne (CHUV) und partiell auch in Zürich. Der erfahrene Chirurg operiert pro Woche in der Regel acht Patientinnen und Patienten. Präzisionsarbeit, die viel Disziplin und mentale Stärke voraussetzt. Wie der als «Schweizer des Jahres 2009» ausgezeichnete Könner mit diesem Druck im Kampf um Leben und Tod umgeht, wollten wir im Gespräch mit René Prêtre genauer wissen.
Herr Prêtre, Sie kommen soeben aus dem Operationssaal. Ist alles wunschgemäss verlaufen?
Ja, heute ist mein Programm — bis auf ein wenig Rückstand auf die Marschtabelle — aufgegangen, und die Operation ist gelungen. Ich bin erleichtert.
Eine banale Frage zum Einstieg: Was macht eigentlich ein gutes Herz aus?
Nun, ich muss immer lachen, wenn ich diese Frage höre. Denn ein gutes Herz — symbolisch gesprochen — ist ja ein grosses Herz. Es zeichnet einen Mensch aus, der viel Empathie und Goodwill für andere aufbringt. Wir Mediziner hingegen erschrecken immer, wenn wir ein grosses Herz sehen. Denn ein grosses Herz deutet darauf hin, dass das Organ krank ist. Entweder zu viel Wasser oder ein Loch erschweren dem lebenswichtigen Muskel das Leben. Und entsprechend alarmiert sind wir. Anders gesagt: Ein gutes Herz ist ein kleines Herz, intakt, kräftig, pulsierend — mit einem guten Tonus.
Nun arbeiten Sie ja oft mit schwer erkrankten Kindern. Was motiviert Sie — trotz den oft schwierigen Schicksalen, die Sie sehen — optimistisch zu bleiben?
Schauen Sie — es ist im Prinzip eine ganz einfache Gleichung, die ich auch immer mit den Eltern anspreche. In der Regel geht alles gut. Ab und zu stehen die Chancen eins zu zwei, dass es gelingt. Ohne Operation ist die Chance null. Wann immer man kann, muss man also operieren.
Sie sind auch mit dem Tod konfrontiert. Wie trösten Sie andere, allen voran die Eltern? Meistens treffe ich die Angehörigen gut zwei Monate nach dem traumatisierenden Ereignis, das macht’s leichter für alle. Ich artikuliere ganz ehrlich und klar meine Gefühle, spende Trost. Und wenn ich einen Fehler begangen haben sollte, dann spreche ich diesen an. Ehrlichkeit ist das A und O in diesen schwierigen Momenten. Letztlich will ich sagen können: «Wir haben alles unternommen, was man konnte.» Aber natürlich gibt es auch Rahmenbedingungen der Natur — zum Beispiel eine schwer geschädigte Lunge eines Kleinkinds —, die den Erfolg unmöglich machen.
Kennen Sie Schuldgefühle?
Ja. Wenn ich eine Lage falsch eingeschätzt habe, geht mir das sehr nah. Ich schlafe schlecht, wache auf. Zum Glück ist mir dies in den letzten acht Jahren «nur» zweimal passiert.
Sie arbeiten in einem Hochpräzisionsberuf. Wie bereiten Sie sich auf Risikoeingriffe vor?
Im Normalfall haben wir einige Tage Vorbereitungszeit vor einer Operation. Ich lese die Krankengeschichte bis aufs letzte Detail. Dann arbeite ich meine Checklisten durch, fast wie ein Pilot, Schritt für Schritt. Wir sprechen hier von unserem «Cookbook». Und neuerdings zeichne ich die schwierigsten Operationen auf und schneide daraus 10-Minuten-Videos, die ich mir genauestens anschaue, um im Fall der Fälle gerüstet zu sein.
«Als Chirurg will ich von mir sagen können: Wir haben alles Menschenmögliche unternommen.»
Wenn Sie nicht Chirurg geworden wären, was wäre ein anderer Traumberuf gewesen?
Ich weiss es nicht genau. Ich bin per Zufall in der Medizin gelandet. Die Chirurgie hat mich aber von Beginn weg fasziniert. Denn als Chirurg gehen wir direkt an die Krankheit heran, attackieren diese und schneiden sie raus, während viele andere Somatikerkollegen Krankheiten primär mittels Medikamente und anderer Therapien bekämpfen müssen. Das zumindest war meine Vision dieses Berufes …
Sie sind auf einem Bauernhof gross geworden. Inwiefern hat Sie dies geprägt?
Stark. Sehr stark sogar. Einerseits lebten wir sehr bescheiden — meine Eltern und meine sechs Geschwister. Wir haben gelernt, Sorge zu tragen zu den Dingen, die unser Leben einfacher machten. Den Traktor beispielsweise. Schon als Kind habe ich gelernt, ein solches Gefährt — wenn es dann mal nicht funktionierte — bis auf die letzte Schraube zu zerlegen. Diesen Tüftelsinn und die nötige Feinmotorik kann ich heute noch gut gebrauchen. Wie auch meinen Sinn für das Beobachten von Naturphänomenen.
Wie meinen Sie das?
Als Bauer müssen Sie die Natur lesen können. Wenn ein Gewitter im Anzug ist, müssen Sie wissen, wie Sie ihre Ernte schützen. Denn sonst stehen Sie mit leeren Händen da, wenn das grosse Wasser kommt. Wenn ich heute ein Herz beobachte und sehe, wie der Blutfluss in diesem komplexen Organ verläuft, fühle ich mich manchmal in diese Zeiten zurückversetzt, weil ich ähnliche Phänomene auch in der Biologie des Menschen beobachten kann.
Sie engagieren sich stark für Wohltätigkeitszwecke und haben in diesem Zusammenhang Ihre eigene Stiftung, die in Mozambique und Kambodscha herzkranken Kindern hilft. Wieso gerade dort?
Nach Mozambique kam ich im Rahmen eines Hilfsprojekts, als ich noch in Paris tätig war. Ich gestehe: Im Vorfeld fragte ich mich ernsthaft, wieso wir dort Herzchirurgie betreiben sollten, wenn die Hälfte der Kinder nicht mal in die Schule gehen darf. Aber am Schluss überzeugten mich meine Pariser Kollegen, dass es sinnvoll ist, in diesem armen Land professionelle Strukturen aufzubauen. Unser primärer Zweck ist zwar, kranken Kindern zu helfen. Mit unserem Hilfswerk wollen wir aber auch die unternehmerischen Strukturen fördern. Das heisst: Wir sichern und schaffen neue Arbeitsplätze.
Und wie kamen Sie nach Kambodscha?
Dorthin holte mich mein Freund Beatocello, der letztes Jahr verstorbene Arzt Beat Richner, der dort sein grosses Hilfswerk Kantha Bopha aufgebaut hat. Sein Engagement für die Akutspitäler in Siem Reap und in Phnom Phen haben mich sehr beeindruckt. Und so schule ich dort Chirurgen für Herzoperationen an Kindern. Mein Team reist viermal pro Jahr in arme Länder, zweimal davon bin ich selbst mit dabei.
Sie sind offensichtlich ein Mann mit viel Herzblut und Passion. Wofür schlägt Ihr Herz, wenn Sie nicht arbeiten? Bleibt da überhaupt noch Zeit für Hobbys?
Nun ja, die Tage im Operationssaal sind schon intensiv und lang. Aber es gibt auch ein Leben neben dem Spital. Besonders gern gehe ich ins Kino — denn da bin ich offline und zwei Stunden nicht erreichbar. Zudem lese ich viel. Nicht nur Fachbücher, sondern auch Literatur. Ich liebe die gepflegte Sprache der grossen Dichter dieser Welt: Shakespeare, Dostojewski, Malraux. Und ich habe sogar selber versucht, ein Buch zu schreiben. Ganz ohne Ghostwriter, darauf bin ich ein wenig stolz. Und es verkauft sich gar nicht so schlecht. (lacht).
Sie sind ja ab und zu auch in Gstaad. Was verbindet Sie mit diesem Ort?
Das ist eine schöne Geschichte. Im Normalfall sehe ich 99 Prozent meiner Patientinnen und Patienten im späteren Leben nie wieder. Wenn die Operation gelungen ist, leben sie ohne mich weiter. Nicht so in diesem Falle — in Gstaad nämlich treffe ich jenen Mann und seine Familie, den ich operieren durfte. Uns verbindet unterdessen eine lange und schöne Freundschaft. Der Besuch hier im Berner Oberland, wo ich in der Regel einmal pro Jahr bin, ist also eine doppelte Freude.
Und sind Sie ab und an auch im Palace?
Ja, genau, mit diesem Freund gehe ich gerne zum Apéro ins Palace. Es ist cool, berühmte Leute dort zu treffen. Das ist dann schon grosses Kino … (rw)
Website: Stiftung «Le Petit Coeur»