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Leintücher schweben in der Luft. Grosse weisse Flockenteppiche, die im Sekundentakt zu Boden gleiten. 50 Zentimeter hat es hingeworfen, in zwei Stunden nur. Wintermärchenzauber kurz vor sechs Uhr abends. Eine festliche Stille liegt über Saanen.


Doch wo steckt er bloss? Die Kirche von Saanen ist prall gefüllt mit winterfesten Kulturinteressierten, die durcheinanderreden. Ein Stimmengewirr, feierlich aufgeregt, voller Vorfreude auf das, was da kommen wird. Doch wo um Himmels willen sind sie, die Gebrüder Renaud und Gautier Capuçon an Violine und Cello sowie Pianist Jean-Yves Thibaudet? Unvermittelt tauchen sie auf, die drei musischen Männer im Schnee, und huschen in ihren Lackschühchen durch den Hintereingang hinauf auf die Empore, entledigen sich ihrer Mäntel, Hüte und Schals. Drei Minuten später löscht der Pfarrer das Licht.



Das Trio schreitet durch den Mittelgang ins warme Scheinwerferlicht, nimmt Platz. Pause. Und dann tauchen sie ab, in ihre Welt der Noten von Mendelssohn und Ravel. 65 Minuten wohliger Kammermusik-Klang mit drei Virtuosen, die sich wie im Schlaf verstehen. Der Applaus will nicht enden. Zwei Zugaben geben die drei international gefeierten Freunde, dann müssen sie ein Haus weiter. Zurück ins Palace, wo eine grosse Gala zu den Sommets Musicaux auf sie und 142 Gäste wartet. Renaud Capuçon, Solist und zugleich künstlerischer Direktor des Festivals, ist gefordert. Kurz die Schweissperlen abtupfen, ein Glas Wasser im Vorbeigehen — und dann gilt es Hände zu schütteln, viele Hände. Der Violinist hat sein Publikum im Griff, auch neben der Bühne. Es wird ein langer und lustiger Abend in der Salle Baccarat.


Am nächsten Morgen — bevor er zu einem Kinderkonzert davonrennen muss — besuchen wir den Spiritus Rector in Zimmer 218. Eine Junior Suite mit Blick auf Wispile ist es, wo er es sich für eine Woche lang bequem macht — stets dieselbe übrigens. «Ich habe lieber einen übersichtlichen Raum für mich. Sonst irre ich eh nur rum, weil ich ja durchschnittlich alle drei Tage in einem anderen schönen Hotel dieser Welt wohnen darf.» Er fühlt sich so richtig wohl im Palace, das spürt man. Auf dem Tisch liegt eine Legoschachtel seines Sohns, der mit Maman wieder abgereist ist, zurück nach Paris in die Schule. Daneben steht eine Champagnerflasche mit Widmung eines Fans. Und in einer Vase ruht das Bouquet, das er am vergangenen Abend überreicht erhalten hat. Verstreut auf dem Sofa liegen Noten des gestrigen Ravel-Konzerts, mit Handnotizen versehen. Ein zerknitterter Frack hängt an der Garderobe, den der Room Attendant später aufbügeln wird.

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Renaud Capuçon
Sir Simon Rattle, London Symphony Orchestra
Edward Elgar: Violin Concerto: II. Andante
Quelle: Youtube

 
Aber wo ist eigentlich sie? Die Guarneri aus dem Jahre 1737, die Renaud durch die ganze Welt begleitet? «Unter dem Bett im Moment. Da ist’s ihr am wohlsten», meint er lachend. Stehlen kann und will sie niemand, denn sie ist unverkäuflich. Ein Luftbefeuchter läuft rund um die Uhr. Ihretwegen? «Primär ist er für mich da, denn ich schlafe nicht gut bei trockener Luft. Aber der Violine tut es sicherlich auch gut.» Dann ist er fast schon wieder weg. Ein letzter Blick in den Spiegel, rasch mit dem Kamm durchs Haar, die Sonnenbrille aufgesetzt. Und selbstverständlich sein ominöses Köfferchen unter dem Arm. Später kehrt er zurück. Und übt seine zwei Stunden; Feinschliff nennt er dies. «Ich liebe Rituale. Vor jedem Konzert gönne ich mir einen kurzen Gesundheitsschlaf. Anschliessend trinke ich Tee und gehe in Gedanken die heiklen Passagen durch.» Dann rasiert er sich, nimmt eine Dusche und macht sich fürs Konzert bereit. Nervös sei er in der Regel nicht, aber hochkonzentriert und gespannt schon. Gegessen wird erst nach dem Auftritt, am liebsten auf dem Zimmer. Bewusst nicht zu viel. «Ich muss ziemlich aufpassen, denn vor lauter Einladungen würde ich sonst rasch an Gewicht zulegen.»

 

Renaud Capuçons Liaison zum Palace und zu den Sommets Musicaux hat eine längere Vorgeschichte. Mit dem Gründer und langjährigen Leiter des Festivals, Thierry Scherz, verband den Franzosen eine Freundschaft, und er war oft zu Gast. «Dann kam der schwierigste Anruf meines Lebens: Das Festival brauchte einen neuen künstlerischen Direktor nach dem Tode Thierrys. Und ich sagte spontan zu.» Seither gedeiht das Festival organisch. Capuçon verlässt sich dabei auf seinen Instinkt. Ein Jahresthema will er nicht, vielmehr sollen die Künstler und die Stücke im Zentrum stehen. «Ich will die Musik, die mir nahe geht, mit meinem Publikum teilen. Wir wollen einen grossen Moment gemeinsam erleben», umreisst er sein Programm. Auf dem Rückweg aus Gstaad macht er jeweils in Lausanne an der Haute Ecole de Musique Halt, dort unterrichtet Renaud Capuçon alle zwei Wochen seine Studierenden. 22 Talente und Alumni sind es unterdessen schon. «Fast wie eine Familie.» Künftige Stars für die Sommets Musicaux also. Unter anderem. (rw)

Renaud Capuçon
Sir Simon Rattle, London Symphony Orchestra
Edward Elgar: Violin Concerto: II. Andante
Quelle: Youtube

 

Sommets Musicaux de Gstaad
31.1. bis 8.2.2020

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ISSUE N° 9 – ALL AROUND

AUF DEN FERSEN VON RENAUD CAPUÇON