Es herrscht so etwas wie Stau am Berg. Aber ein friedlicher. Vor uns breiten sich sieben riesige Stofffelder aus, hoch oben an einem Abhang auf der Wispile. Man grüsst sich und ist unter Seinesgleichen. Die Paraglider, die hier auf den Abflug warten, kennen sich, die meisten grüssen sich mit Vornamen. Wir haben Vortritt für unseren Huckepack-Flug. Mit an Bord bei Pilot Fabrice Bielmann ist zuerst Neffe Loïc, später dann seine Schwester Chantal aus Gimel, die ihm einst das Fliegen mit dem Gleitschirm beigebracht hatte.
Fabrice Bielmann von ParaGstaad ist ein erfahrener Mann der Gstaader Lüfte. 1993 schon hatte er mit dem Gleitschirmfliegen begonnen. Seither ist er kommerziell in der Luft, für seine Gäste aus aller Herren Länder. 7000 Flüge oder so hat er unterdessen auf dem Buckel, auf dem er aktuell einen 20 Kilogramm Rucksack mit Gleitschirm und Sicherheitsmaterial mitträgt. «Zurzeit haben wir viele arabische und indische Interessenten, die unsere Bergwelt aus einer anderen Perspektive sehen wollen. Das gehört sozusagen auf die Bucketlist bei einem Besuch in den Alpen.» Im Sommer sind vor allem die Flüge am späten Nachmittag und vor dem Einnachten beliebt. Dann präsentiert sich das Bergpanorama von seiner spektakulärsten Seite — und die Thermik ist auch ideal. Im Winter fliegt’s sich den ganzen Tag hindurch gut. «Generell ist die Thermik im Sommer eher besser als im Winter. Aber dieser Blick in die verschneite Landschaft, die packt einen schon. Auch nach vielen Jahren noch läuft’s mir da kalt den Rücken runter», gesteht der Profipilot. Obwohl man dank guter Thermowäsche und Ausrüstung nicht frieren muss, hoch oben in der Luft.
Heute sowieso nicht — im Tal hat’s schon morgens um 10 Uhr 29 Grad, auf der Wispile auf 1800 Metern über Meer sind es immer noch angenehme 20 Grad. Unterdessen ist der Schirm mit seinen rund 200 Fäden, von denen jeder 200 Kilo Gewicht tragen kann, feinsäuberlich auf der Bergwiese ausgebreitet. Die meisten Schirme würden heute im Fernen Osten, oft in Vietnam, von Hand in 80 bis 100 Stunden sorgfältig genäht, die Endausrüstung erfolgt dann in der Schweiz. «Beim Start müsst ihr mitrennen, fünf Sekunden rund, dann sind wir in der Luft. Und bei der Landung bitte genau meinem Kommando folgen, damit wir sanft aufsetzen können und nicht übereinander drüberstolpern.» Fabrice gibt dem Passagier, der an seiner Brust in einem zweiten Sitz — fast wie bei einem Känguru — hängt, klar dosierte Anweisungen. Helm aufsetzen, die Aufhängevorrichtungen mehrfach gegenchecken, Pause. Und dann geht’s auch schon los. Im Nu sind die zwei in der Luft. Und zur Überraschung der versammelten Fluggemeinde am Berg ist der Aufwind schon in diesen frühen Morgenstunden ausgezeichnet. «Dafür gibt’s keine Garantie. Die Thermik ist heute einmal da, morgen wieder anderswo. Wir müssen die wärmeren Luftströmungen jeden Tag neu suchen.»
In grossen Radien kurbelt der Schirm mit den zwei Überfliegern höher und höher. «Bis zu 10 Meter Auftrieb pro Sekunde haben wir. Und an guten Tagen kommen wir gut und gern auch mal bis auf 4200 Meter über Meer.» Sie driften ab, kleiner und kleiner wird der Schirm am stahlblauen Himmel. Irgendwann überfliegt er das Palace. Und muss dabei stets Rücksicht nehmen auf die Zivilflugzeuge, die sich im Anflug auf den Flugplatz Saanen befinden. Ebenso hat der Pilot jederzeit seine Mitfliegenden im Auge. Am Himmel gilt Rechtsvortritt unter Gleitschirmfliegern. Sprich: Der Pilot, der näher zu einem Berghang zur rechten Hand ist, hat Priorität.
Viele sind schon mit Fabrice in die Luft gegangen – von Gunter Sachs bis zu manch adligem Passagier. Auch Kinder von bekannten Filmstars hatte er mit an Bord. Wen genau, das verschweigt der diskrete Pilot aus Rougemont. Die älteste Passagierin war 90, eine Französin, die stets zu ihrem Geburtstag zum Ausfliegen kam. Der jüngste war gerade mal drei Jährchen alt. «Ich glaub, ich hab’ den coolsten Job der Welt.» Spricht’s — und hebt erneut ab. Dieses Mal mit seiner Schwester, die schon seit Jahren nicht mehr in die Luft ging! Die zwei jauchzen, im Chor. (rw)